Aus dem Museum Kirche in Franken: Kleeblattbecher aus Latrinenfund

Latrinenfund mit Kleeblattbecher
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"Was des einen Müll...ist des anderen Schatz" - von Claudia Berwind

Im Oktober 1983 wurde der bis dahin größte und wichtigste Bodenfund der Windsheimer Stadtgeschichte entdeckt, er ging in der Forschung unter dem Namen „Windsheimer Spitalfund“ in die Geschichte ein.

Beim Neubau unserer benachbarten Bäckerei entdeckte man eine Abortgrube des spätmittelalterlichen Spitals und barg aus dem 6,50 m tiefen Latrinenschacht zahlreiche Ton- und Glasscherben und auch Holz-, Leder- und Textilreste sowie botanische Reste. Der Schacht wurde in ein bereits bestehendes Kellergewölbe eingetieft, welches dem Spital vor seiner Aufgabe als Lagermöglichkeit diente. In dreiwöchiger Arbeit wurden 2m unterhalb des Laufhorizonts unter teils schwierigen und gefährlichen Bedingungen die weiteren 4,50m fundtragenden Schichten aus dem engen und streng riechenden Grabungsschacht abgetragen (vgl. Profilzeichnung). Je tiefer man vordrang, desto mehr Funde kamen zum Vorschein, auch viele organische Materialien hatten sich in diesem teils vom Kalkstein abgeschlossenen Milieu erhalten.

In der Reihe „Teile des Windsheimer Spitalfunds“ stellen wir immer wieder einzelne Stücke aus dem Massenfund vor und können so den Alltag der Bewohner des spätmittelalterlichen Spitals beleuchten. Denn genau diese Bewohner entsorgten über Jahre hinweg kaputte, unbrauchbare oder auch aus der Mode gekommene Alltagsgegenstände in dieser Latrine. Und nach dem Motto „was des einen Müll, ist des anderen Schatz“ versuchen wir uns an einer Art Upcycling mit historischer Dimension.

Im ersten Teil haben wir einen Gegenstand aus dem Bereich Tischgeschirr herausgesucht: ein Keramikbecher (Nummer Ke.3625) in einer besonderen Form. Ein kompletter Vierpassbecher oder auch Kleeblattbecher, der sich laut der Profilzeichnung ganz unten in der Grube befand. Namengebend ist die Gestaltung des Randes, die an einen Vierpass (ein architektonisches und heraldisches Ornament) erinnert. Er ist fast ein Einzelstück, es gibt nur ein weiteres Fragment eines zweiten Bechers dieser Art. Ein schwachbauchiger Becher mit ebenem Boden, unterhalb des Randes ist er mit Rillen bedeckt. Er wurde reduzierend und klingend hart gebrannt. Er ist 11,1cm hoch und hat ein maximales Randmaß von 9cm sowie ein Bodenmaß von 5,4cm.

Wann wurde er benutzt bzw. hergestellt? Die Datierung von Keramik kann über verschiedene Methoden erfolgen. Den ersten Hinweis gibt immer die Schicht, in welcher der Keramikgegenstand gefunden wurde. Hier wissen wir, er lag ganz unten, d. h. er gehört definitiv zu den älteren Stücken des Spitalfunds. Die Stratigraphienfolge ist aber im Falle des Spitalfunds nicht ganz gesichert, denn durch das wiederholte Nachfüllen mit Unrat und Kulturschutt hat sich alles durchmischt und somit ist keine klare Abgrenzung möglich.

Eine weitere Möglichkeit wäre eine Thermolumineszensdatierung. Die im verwendeten Ton vorkommenden Mineralien wie z.B. Quarz nehmen Energie in Form von ionisierender Strahlung auf. In der Umgebung vorkommende natürliche radioaktive Nuklide werden ebenso wie die kosmische Strahlung gespeichert. Beim Brennvorgang wird diese gespeicherte Energie in Form von Licht vom Keramikgegenstand abgegeben (Lumineszens) und sämtliche Strahlungswerte auf „0“ gesetzt. Danach reichern sich diese Strahlungswerte wieder über die Zeiten an (vgl. auch Grafik), d. h. je älter ein Objekt ist, desto mehr gespeicherte Energie, desto mehr Strahlung gibt der Gegenstand bei einer erneuten Erhitzung ab. Auf diese Weise kann gemessen werden, wann etwas gebrannt wurde. Bei antiken Gefäßen kann so zumindest die Echtheit geprüft werden, denn die gespeicherte Strahlung kann nicht künstlich imitiert werden und somit kann gefälschte Keramik herausgefiltert werden. Mittelalterliche Gefäße können damit nicht aufs Jahr genau bestimmt werden, aber bei bekannten Fundumständen (Messung der radioaktiven Umgebung im Befund) gibt die Methode gute Hinweise. Leider kam in den 1980er Jahren diese Methode sicher noch zu selten zum Einsatz und die Datierung konnte in diesem Fall auch durch eine wesentlich einfachere Möglichkeit erfolgen: über die Typologie der Gefäße bzw. der Vergleich mit anderen bereits datierten Massenfunden.

Fast zeitgleich mit dem Windsheimer Spitalfund wurden in Nürnberg zwei Abfall- und Abortgruben eines Privathauses und eines Wirtshauses ausgegraben. Dort fand man ebenso Trinkbecher mit Vierpassrand. Die meisten waren größer und hatten eine eher kelchförmige Form (vgl. II B 110 aus dem Haus Obere Krämergasse 12 unter http://objektkatalog.gnm.de/objekt/Ke3305), doch es kam auch ein kleiner mit fast den gleichen Maßen wie unser Becher zum Vorschein (vgl. I B 65 aus dem Wirtshaus „Zum Wilden Mann“). Datiert wurden die Becher ins 15. Jahrhundert. Andere Fundorte in Unterfranken und im benachbarten Württembergisch-Franken legen eine Datierung der Vierpassbecher ins 14. Jahrhundert nahe. Das deckt sich mit der zeitlichen Einordnung der Latrine in die Geschichte des Spitals. Die Gründung des Spitals im Jahre 1318 kann als terminus post quem gelten, der Spitalfund kann also nicht älter sein als Anfang des 14. Jahrhunderts. Der Vierpassbecher gelangte wohl in den Anfangszeiten der Nutzung der Latrine in den Schacht und kann deswegen getrost ins 14. Jahrhundert datiert werden.

Wer hat ihn wofür benutzt? Die Windsheimer Bürger waren aus verschiedenen sozialen Schichten und dementsprechend gestaltete sich ihre Aufnahme ins Spital. Es gab die umb gots willen aufgenommenen Armen und Kranken, aber auch eine nicht unerhebliche Zahl an Pfründnern, die sich quasi ins Spital einkauften. Da wiederum gab es noch eine soziale Staffelung in arme und reiche Pfründen. Bei der Aufnahme ins Spital mussten diese Pfründner ihr Hab und Gut mit ins Spital bringen bzw. dem Spital übereignen. Zum beweglichen Gut gehörte sicher auch eigenes Tischgeschirr, das man mitbrachte. Ob nun aber der Vierpassbecher zu einer Herren- oder Siechenpfründe gehörte oder vielleicht auch von den Bedürftigen verwendet wurde, lässt sich nicht zufriedenstellend beantworten. Dem Material nach konnte die breite Mittelschicht und auch die ärmere Bevölkerung sich solch ein Gefäß leisten. Bei einem Gefäß aus Glas oder Metall würde sich das etwas anders darstellen. Der Vierpassbecher wurde als Trinkbecher verwendet und die Forschung sieht in dieser speziellen Ausformung ein Gefäß für Wein. Die etwas größeren Vierpassbecher aus Nürnberg hingegen schreibt man dem Genuss von Bier zu. Wein galt sowohl als Getränk – meist verdünnt getrunken - als auch als Medizin, die gerne nach einem Bade verordnet wurde. Somit lässt sich unser Becher als Weinbecher klassifizieren, der aber jedem Spitalbewohner ob arm ob reich zugeschrieben werden könnte.

Wer hat ihn hergestellt? Die weiteren Spitalfundobjekte aus Keramik weisen größtenteils die gleiche Machart auf, den oxydierenden Brand. Der Vierpassbecher wurde reduzierend gebrannt und unterscheidet sich deswegen rein farblich von all den Töpfen und Kannen. Ob er beim selben Topfhändler eingekauft wurde bzw. in derselben Hafnerei hergestellt wurde, lässt sich nicht feststellen. Die fehlende Formenvielfalt der anderen Gefäße deutet aber vielleicht darauf hin, dass das Spital immer beim gleichen Händler bzw. Hersteller eingekauft hat. In Windsheim konnte bis jetzt noch keine Hafnerei archäologisch nachgewiesen werden (vgl. dazu V. Kaufmann, Archäologische Funde einer spätmittelalterlichen Glaserwerkstatt in Bad Windsheim, Bad Windsheim 2010), aber der sog. Schüsselmarkt befand sich unweit der Hauptkirche St. Kilian und dem Rathaus. Hier konnte der Bedarf an Gebrauchskeramik gedeckt werden. Da die Vierpassbecher eine fränkische Besonderheit gewesen sind, kann man die Herstellung in Franken lokalisieren. Die Herstellungszentren befanden sich um die großen Städte Nürnberg und Würzburg herum. 

Was nun des Spitalbewohners Müll darstellte, der den Becher in der Latrine entsorgt hat – höchstwahrscheinlich, weil er oben am Rand bestoßen war -, bedeutet für die Archäologen und Historiker einen Schatz, der das Leben der Menschen damals lebendig werden lässt. Ein Weinbecher aus einer Latrine kann uns z. B. heute vermitteln, dass persönliche Gegenstände uns ein Leben lang begleiten können und wir uns erst von ihnen trennen sollten, wenn die Nutzung nicht mehr gewährleistet ist und nicht nur aus einer Modelaune heraus.

 

 

Literatur:

Walter Janssen, Der Windsheimer Spitalfund aus der Zeit um 1500. Ein Dokument reichsstädtischer Kulturgeschichte des Reformationszeitalters, Nürnberg 1995.

Wolfgang Reddig, Hab und Gut der Pfründner – Zur materiellen Sachkultur in bürgerlichen Spitälern des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S.167-180, in: Artur Dirmeier (Hg.), Pfründner und ihr Alltag 1500-1800, Regensburg 2018 (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens Bd. 12).

Germanisches Nationalmuseum, Aus dem Wirtshaus zum Wilden Mann. Funde aus dem mittelalterlichen Nürnberg, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 1984, S. 34-35, 85-90, 188.

Hermann Heidrich/Andrea K. Thurnwald, Spuren des Alltags.Der Windsheimer Spitalfund aus dem 15. Jahrhundert, Bad Windsheim 1996 (Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums Bd. 26).

Rainer Hofmann, Katalogbeitrag IX.61 Vierpaßbecher, S. 216, in: Ritter, Burgen und Dörfer. Mittelalterliches Leben in Stadt und Land, Sonderausstellung des Gebietsausschusses Fränkische Schweiz zum 650. Todestag Konrads II. von Schlüsselberg im Fränkische Schweiz-Museum Tüchersfeld, Pfalzmuseum Forchheim und Burg Waischenfeld, Tüchersfeld 1997.